konkret, auch wenn mögliche Deutungen ständig mitschwingen. Der Hunger sucht sich seine Opfer, lässt sie Konservendosen horten und Volksspeisungen organisieren, kalte Bohnen verschlingen und die nagende Leere mit Whisky zuschütten.
Dass Daniel Hunger hat, merkt er erst, als er unterernährt in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird. Ihm ist der Appetit vergangen, seit er sich für den Tod des geliebten kleinen Bruders verantwortlich fühlt. Die Familie versteckt sich hinter der Fassade der gepflegten Vorort-Normalität. Sie säuft und schweigt. Daniel, zermürbt und bis auf die Knochen abgemagert, sucht ein Zuhause, Speise, Absolution. Er trifft auf Emma, die Unverwüstliche, Unzerstörbare.
Emma ist überall und alles gleichzeitig. Magersüchtig kränkelt sie unter Daniels Händen, rollt sich medikamentenschwer zusammen, dann wieder steht sie im Nachtclub hinterm Tresen, fackelt die Wohnung ab, malt die Wände gelb. Sie ist Kindfrau und Mutter, Kranke und Rettung zugleich, hat ihn sein Leben lang begleitet und kennt seine Schuld. Doch als Daniel versucht, ihr eigenes Geheimnis aufzudecken, entzieht sie sich ihm.
Sie hat ihre Gründe; die Störungen und Zerstörungen der Figuren sind biografisch erklärbar. Aber trotz dieser angedeuteten Erklärungsmuster - Kindesmissbrauch, Sprachlosigkeit in der Kleinfamilie, Inzucht, Lebenslügen - interessiert sich Komarnicki nicht für psychologische Wahrscheinlichkeit. Daniels und Emmas Welt entfaltet sich wahnhaft, fantastisch, schwankend zwischen Hungerfantasie und Medikamentenrausch, Poesie und Metaphysik des Hungers. Die Figuren begegnen sich in Schattenbezirken zwischen Traum und Tod, überlappen sich, fließen ineinander. Detektiv Bell, der eigentlich für Aufklärung zuständig ist, fädelt sich in Daniels Leben ein, um Fakten zu sammeln, und wird von der fremden Familie, den missglückten Lebensläufen aufgesogen. Er lässt sich einen Bart stehen und stapelt Fertigsuppen, denn bald schon hat er seinen eigenen Hunger entdeckt, flirtet mit der Schwester des Toten und mit einer erfundenen Existenz als Autohändler. Seine Zuständigkeit gerät ins Wanken, die Ermittlung wird zur Wanderung durch New Yorker Bars, zu Maria und zu ihrem wilden Sohn, der sich nicht anziehen lässt, zum Taxifahrer Mahmed, der nicht aufhören kann zu arbeiten, zu Menschen aus Daniels Welt, hungrig und zäh wie er. Dass der Detektiv auch Daniel heißt und sich schließlich am eigenen Küchentisch wieder findet, überrascht nicht mehr.
Komarnickis Roman, ausgezeichnet übersetzt übrigens bis auf einen überraschenden Patzer - der "best man" in der bizarren Hochzeitsszene auf einem unkrautüberwucherten Stück Niemandsland wird bei Silvia Morawetz zum "besten Mann" statt zum Trauzeugen - ist mutig. Denn ganz wie seine Figuren strauchelt er zwischen den Gattungen, lässt sich nicht festlegen - und vor allem riskiert er einen Überschuss an Pathos und Symbolträchtigkeit, den man ihm auch übel nehmen könnte. Aber da regt sich schon der erste Hunger.
ANNETTE PEHNT
Todd Komanicki: "Hunger". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 334 S., geb., 38,- DM.
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